Im Reich der Daphne
Jörg Becker
Bildtitel werden in ihrer Bedeutung für die Interpretation dessen, was sie bezeichnen, oft zu hoch eingeschätzt. Vor allem wenn sie selbst bildhaft sind, werden sie stellvertretend für die visuelle Mehrdeutigkeit des Werks vielfach Gegenstand der Bildexegese, obwohl sie nicht mehr als Ausgangspunkte für die Bildbeschreibung sein sollten. Einen besonders beziehungsreichen Titel hat Andrea Küster einem 1999 entstandenen Ölbild gegeben, von dem man annehmen darf, dass es den Namen der Nymphe Daphne trägt, weil die Künstlerin in ihr eine ferne Wesensverwandte erkennt. Die Nähe zu der Welt der Pflanzen und der organischen Naturerscheinungen hat die Künstlerin in ihren Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen stets gesucht. Aber der Mythos der Daphne ist eine unglückliche Geschichte, denn er erzählt nicht nur von der Nähe zur Natur, die der Tochter eines Flussgottes und der Erdgöttin Gaia ohnehin mitgegeben wurde, sondern auch von der erzwungenen Ferne von den Menschen. Leukippos, der sie als Mädchen verkleidet verfolgte, wurde auf Geheiß des Apolls getötet, aber als der Lichtgott und Führer der Musen selbst in Liebe zu der schönen Nymphe entbrannte, verwandelte Peneios seine Tochter auf ihr Flehen in einen Lorbeerbaum. Andrea Küster verweist in ihrem Bildtitel auf den Mythos, in dem ein Mensch zu einer Pflanze wird, aber ihr Interesse richtet sich in dem hochformatigen Gemälde, das von einer abstrakten, rötlich schimmernden Formation dominiert wird, nicht auf die Entstehung eines organischen Gebildes, sondern auf die Entwicklung von Plastizität mit den malerischen Mitteln der Farbe und des Lichts. Wir wissen zwar, dass die von drei Bildrändern überschnittene Form, die zwischen der verschatteten linken und der lichthaften rechten Bildhälfte vermittelt, aus Pflanzenstudien hervorgegangen ist. Trotzdem ähnelt diese mehr einer verhüllten Figuration als einer Blüte. Ist dies die zweite Metamorphose der Daphne, die keine Rückverwandlung in eine menschliche Gestalt mehr erlaubt? Deutet sich mit der Erscheinung des Bildes ein erneuter Rückzug der Künstlerin aus der schillernden Welt der Pflanzen und der Blüten an, jene Verfestigung oder gar Erstarrung organischer Formen, die verschiedentlich in ihren Werken beobachtet werden konnte? Oder berechtigt die Herkunft der Daphne-Erzählung aus den „Metamorphosen“ des Ovid zu einem ausdrücklicheren Hinweis auf einen besonders für die Kunst des 20. Jahrhunderts wirkungsmächtigen Begriff, den schon Goethe als ein Bildungsgesetz verstand, dass ebenso elementare Bedeutung für den Bereich des Organischen wie für den der Kunst besitzt: „Alles ist Metamorphose im Leben – bei den Pflanzen und bei den Tieren bis hin zum Menschen und bei diesem auch.“
Das Naturverständnis, welches hinter der Goetheschen Idee der Metamorphose steht, begreift Natur als ständiges Werden und stete Verwandlung: „Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht,“ heißt es in den Einleitungssätzen zur Metamorphosenlehre. Nicht die unveränderliche Gestalt der Naturdinge gilt es zu erkennen, sondern das lebendige Prinzip hinter den Naturerscheinungen in ihrer Vielgestaltigkeit: „Dass uns das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur.“ Von den zahlreichen Künstlern, die die Idee der Verwandlung, des Prozesshaften und der schöpferischen Kraft der Natur aufgenommen haben, seien an dieser Stelle nur zwei genannt, die Pflanzenstudien zur Exemplifizierung ihrer künstlerischen Vorstellungen betrieben haben. Der erste ist Paul Klee, weil er die Wendung von der selektiven, auf das Äußere gerichteten Betrachtung zu einer das Innere der Dinge offenbarenden Anschauung mit unübertroffener Klarheit zu formulieren wusste – textlich wie bildlich: „Der Gegenstand erweitert sich über seine Erscheinung hinaus durch unser Wissen um sein Inneres. Durch das Wissen, dass das Ding mehr ist, als seine Außenseite zu erkennen gibt.“ Klee geht von dem Gedanken einer kosmischen Einheit aus, die Künstler und Welt, Kunstwerk und Betrachter miteinander verbindet. Diese Vorstellung wurde von Joseph Beuys aufgenommen, als dieser die Beziehung des Menschen zur Natur und die daraus resultierende Aufgabe der Kunst beschrieb: „Der Mensch fühlt, dass die Pflanzen und Tiere seine Verwandten sind. / Diese unendliche Kraft, dies dionysische Erbe / und Überquellen schafft der Mensch durch seine / geistige Schau der Realitäten in der Natur ...“ Auch bei Beuys entspricht der Prozesscharakter des Kunstwerks dem evolutionären Prinzip, das für Natur wie Kunstwerk gleichermaßen gilt.
Die Kohle- und Buntstiftzeichnungen von Andrea Küster stehen aufgrund ihrer offenen, den ursprünglichen Gegenstand in ein Gewebe von Linien und Strichtexturen transformierenden Erscheinungsweise in direkter Beziehung zu dieser bildnerisch und gedanklich vorformulierten Tradition. Im Rahmen eines Beitrags für den Katalog „Die Natur als Architektin“ konnte die sprunghaft wechselnde und veränderliche Raumstruktur der Zeichnungen und Pastelle bereits einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. Dabei kamen wir zu dem Ergebnis, dass sich vor allem in den Bleistiftzeichnungen die Idee der schwingenden, arabeskenhaften Linie verkörpert, die durch ihre Ungebundenheit das dynamische Prinzip des Wachstums verbildlicht. Zugleich trägt sie zu einer sukzessiv vollzogenen Raumbildung bei, zu einer Wechselbeziehung zwischen Binnen- und Außenraum, wie sie auch die plastischen Arbeiten der Künstlerin thematisieren. Damit ist jedoch nur ein Werkaspekt angesprochen und es wäre vor allem angesichts der jüngsten Bildreihen „Hag“ und „Magnolienzyklus“ ein Fall einseitiger Betrachtung zugunsten eines bildnerischen Prinzips, auf dass sich die künstlerische Auffassung Andrea Küsters nicht reduzieren lässt. Angesichts ihrer ganz dem Gegenstand zugetanen Erscheinungsform treten diese Bildserien geradezu als Gegenbeispiele für eine auf Veränderlichkeit und Prozesshaftigkeit ausgerichte Argumentation auf. So facettenreich sie ihren Gegenstand auch in seiner changierenden Farbigkeit schildern, erweisen sich die Malereien als Bildkompositionen, die zugleich dem Bedürfnis nach kompositionell und farbig herbeigeführter Harmonie entsprechen.
Auch für diese scheinbar vollkommen anders geartete Bildauffassung lassen sich kunsthistorische Vorbilder ausfindig machen, die kaum weniger einflussreich für das Naturverständnis der Moderne waren als die eben genannten. Als Beispiele wäre zunächst die Sammlung von hundert kunstvoll lithographierten Tafeln zu nennen, die der Jenaer Naturforscher Ernst Haeckel 1898 unter dem Titel „Kunstformen der Natur“ publizierte. Den Betrachtern der symmetrisch angeordneten Lebewesen suggerierte Haeckel die Offenlegung der Ordnungsgesetze der Natur, dem zu dieser Zeit gerade boomenden Kunstgewerbe versprach er erfreuliche und nützliche Anregungen. Dieselbe Intention hatte der an der Berliner Lehranstalt für Kunstgewerbe zuständige Zeichenlehrer Moritz Meurer, als er frühe Pflanzenfotos von Karl Bloßfeldt veröffentlichte. Die Pflanzen und Blütenformen wurden dabei nicht nur als Ursprung des künstlerischen Ornaments angesehen, sondern Natur wurde bewusst unter die Perspektive des künstlerischen Blicks gerückt. Von ihrem eher funktionalen Ursprung als Lehrmittelsammlung haben sich die berühmten Bildpublikationen Karl Bloßfeldts zwar emanzipiert, aber gerade der sachliche, scheinbar unbestechliche Blick der Kamera diente den Interpreten seiner 1928 veröffentlichten „Urformen der Kunst“ als Beweis für die durch seine Bilder offenbarte Einheit zwischen Kunst und Natur. So bemerkt der Kunsthändler Karl Nierendorf in seinem Vorwort für den Band: „So vielgestaltig das Reich der mit uns wachsenden und vergehenden, kristallischen, animalischen und vegetativen Formen auch ist; sie werden bestimmt von einem jenseitigen starren und ewigen Gesetz, das sie ins Dasein rief.“
In ihrem naiven Glauben an eine Sichtbarmachung „starrer“ und „ewiger“ Gesetze, die für die Natur ebenso Gültigkeit besäßen wie für die Kunst, bieten Meurer und Nierendorf – Karl Bloßfeldt hat seine Arbeiten erst später kommentiert – nur schwache Gegenargumente zu den ungleich tiefsinnigeren Überlegungen Klees und Beuys´. Gleichwohl machen sie die Faszination des künstlerischen Blicks auf die Natur sichtbar, durch den sich Natur in Kunst zu verwandeln scheint. Und es scheint diese Art der Faszination zu sein, die Andrea Küster immer wieder zu den scheinbar banalen Motiven aus der Pflanzenwelt hinzieht. Sie ist sich der Gefahr der Arglosigkeit durchaus bewusst, wenn sie trotz aller Fragen nach der „Bedrohung der Natur, der Gentechnik und der Genmanipulation“ immer wieder den „Impuls des Sichtbaren“ (Andrea Küster) aufnimmt. In Anbetracht des ständigen und immer tiefer reichenden Eingriffs des Menschen in die Natur würde aber auch die unreflektierte Affirmation des Schöpfungsgedankens, der sich in einer als prozesshaft bestimmten Kunst manifestiert, leichtgläubig erscheinen. Dies hat Beuys erkannt, als er von einer Fortsetzung der Schöpfung, die in der Verantwortung des Menschen liege, sprach. Die manchmal deskriptiv anmutende Wiedergabe des Sichtbaren unter ständig wechselnden Perspektiven auf der einen und die Offenheit der zeichnerischen Formulierungen auf der anderen Seite markieren das Spannungsfeld, in dem sich das Bild- und Naturverständnis Andrea Küsters entfaltet. Es ist keine Flucht, in der sie sich wie Daphne der Pflanzenwelt anverwandelt, aber es ist ebenso wenig der Versuch einer Versachlichung, die das Lebendige und Vitale der Naturdinge kühl registriert. Andrea Küster findet den Ursprung ihrer Kunst in den einfachsten Gegenständen der Natur und diese wiederum dienen der Verwirklichung ihrer künstlerischen Intentionen. Deshalb nimmt sie die übergroß geschilderten Motive offener Blütenkelche ebenso wie die unterschiedlichen Arrangements der Bildtafeln aus ihren Zyklen zunehmend als Formen räumlichen Gestaltens und damit als neue Repräsentationsformen ihrer Kunst jenseits der Frage nach der Natur war.
Im Reich der Daphne
Jörg Becker
Bildtitel werden in ihrer Bedeutung für die Interpretation dessen, was sie bezeichnen, oft zu hoch eingeschätzt. Vor allem wenn sie selbst bildhaft sind, werden sie stellvertretend für die visuelle Mehrdeutigkeit des Werks vielfach Gegenstand der Bildexegese, obwohl sie nicht mehr als Ausgangspunkte für die Bildbeschreibung sein sollten. Einen besonders beziehungsreichen Titel hat Andrea Küster einem 1999 entstandenen Ölbild gegeben, von dem man annehmen darf, dass es den Namen der Nymphe Daphne trägt, weil die Künstlerin in ihr eine ferne Wesensverwandte erkennt. Die Nähe zu der Welt der Pflanzen und der organischen Naturerscheinungen hat die Künstlerin in ihren Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen stets gesucht. Aber der Mythos der Daphne ist eine unglückliche Geschichte, denn er erzählt nicht nur von der Nähe zur Natur, die der Tochter eines Flussgottes und der Erdgöttin Gaia ohnehin mitgegeben wurde, sondern auch von der erzwungenen Ferne von den Menschen. Leukippos, der sie als Mädchen verkleidet verfolgte, wurde auf Geheiß des Apolls getötet, aber als der Lichtgott und Führer der Musen selbst in Liebe zu der schönen Nymphe entbrannte, verwandelte Peneios seine Tochter auf ihr Flehen in einen Lorbeerbaum. Andrea Küster verweist in ihrem Bildtitel auf den Mythos, in dem ein Mensch zu einer Pflanze wird, aber ihr Interesse richtet sich in dem hochformatigen Gemälde, das von einer abstrakten, rötlich schimmernden Formation dominiert wird, nicht auf die Entstehung eines organischen Gebildes, sondern auf die Entwicklung von Plastizität mit den malerischen Mitteln der Farbe und des Lichts. Wir wissen zwar, dass die von drei Bildrändern überschnittene Form, die zwischen der verschatteten linken und der lichthaften rechten Bildhälfte vermittelt, aus Pflanzenstudien hervorgegangen ist. Trotzdem ähnelt diese mehr einer verhüllten Figuration als einer Blüte. Ist dies die zweite Metamorphose der Daphne, die keine Rückverwandlung in eine menschliche Gestalt mehr erlaubt? Deutet sich mit der Erscheinung des Bildes ein erneuter Rückzug der Künstlerin aus der schillernden Welt der Pflanzen und der Blüten an, jene Verfestigung oder gar Erstarrung organischer Formen, die verschiedentlich in ihren Werken beobachtet werden konnte? Oder berechtigt die Herkunft der Daphne-Erzählung aus den „Metamorphosen“ des Ovid zu einem ausdrücklicheren Hinweis auf einen besonders für die Kunst des 20. Jahrhunderts wirkungsmächtigen Begriff, den schon Goethe als ein Bildungsgesetz verstand, dass ebenso elementare Bedeutung für den Bereich des Organischen wie für den der Kunst besitzt: „Alles ist Metamorphose im Leben – bei den Pflanzen und bei den Tieren bis hin zum Menschen und bei diesem auch.“
Das Naturverständnis, welches hinter der Goetheschen Idee der Metamorphose steht, begreift Natur als ständiges Werden und stete Verwandlung: „Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht,“ heißt es in den Einleitungssätzen zur Metamorphosenlehre. Nicht die unveränderliche Gestalt der Naturdinge gilt es zu erkennen, sondern das lebendige Prinzip hinter den Naturerscheinungen in ihrer Vielgestaltigkeit: „Dass uns das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur.“ Von den zahlreichen Künstlern, die die Idee der Verwandlung, des Prozesshaften und der schöpferischen Kraft der Natur aufgenommen haben, seien an dieser Stelle nur zwei genannt, die Pflanzenstudien zur Exemplifizierung ihrer künstlerischen Vorstellungen betrieben haben. Der erste ist Paul Klee, weil er die Wendung von der selektiven, auf das Äußere gerichteten Betrachtung zu einer das Innere der Dinge offenbarenden Anschauung mit unübertroffener Klarheit zu formulieren wusste – textlich wie bildlich: „Der Gegenstand erweitert sich über seine Erscheinung hinaus durch unser Wissen um sein Inneres. Durch das Wissen, dass das Ding mehr ist, als seine Außenseite zu erkennen gibt.“ Klee geht von dem Gedanken einer kosmischen Einheit aus, die Künstler und Welt, Kunstwerk und Betrachter miteinander verbindet. Diese Vorstellung wurde von Joseph Beuys aufgenommen, als dieser die Beziehung des Menschen zur Natur und die daraus resultierende Aufgabe der Kunst beschrieb: „Der Mensch fühlt, dass die Pflanzen und Tiere seine Verwandten sind. / Diese unendliche Kraft, dies dionysische Erbe / und Überquellen schafft der Mensch durch seine / geistige Schau der Realitäten in der Natur ...“ Auch bei Beuys entspricht der Prozesscharakter des Kunstwerks dem evolutionären Prinzip, das für Natur wie Kunstwerk gleichermaßen gilt.
Die Kohle- und Buntstiftzeichnungen von Andrea Küster stehen aufgrund ihrer offenen, den ursprünglichen Gegenstand in ein Gewebe von Linien und Strichtexturen transformierenden Erscheinungsweise in direkter Beziehung zu dieser bildnerisch und gedanklich vorformulierten Tradition. Im Rahmen eines Beitrags für den Katalog „Die Natur als Architektin“ konnte die sprunghaft wechselnde und veränderliche Raumstruktur der Zeichnungen und Pastelle bereits einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. Dabei kamen wir zu dem Ergebnis, dass sich vor allem in den Bleistiftzeichnungen die Idee der schwingenden, arabeskenhaften Linie verkörpert, die durch ihre Ungebundenheit das dynamische Prinzip des Wachstums verbildlicht. Zugleich trägt sie zu einer sukzessiv vollzogenen Raumbildung bei, zu einer Wechselbeziehung zwischen Binnen- und Außenraum, wie sie auch die plastischen Arbeiten der Künstlerin thematisieren. Damit ist jedoch nur ein Werkaspekt angesprochen und es wäre vor allem angesichts der jüngsten Bildreihen „Hag“ und „Magnolienzyklus“ ein Fall einseitiger Betrachtung zugunsten eines bildnerischen Prinzips, auf dass sich die künstlerische Auffassung Andrea Küsters nicht reduzieren lässt. Angesichts ihrer ganz dem Gegenstand zugetanen Erscheinungsform treten diese Bildserien geradezu als Gegenbeispiele für eine auf Veränderlichkeit und Prozesshaftigkeit ausgerichte Argumentation auf. So facettenreich sie ihren Gegenstand auch in seiner changierenden Farbigkeit schildern, erweisen sich die Malereien als Bildkompositionen, die zugleich dem Bedürfnis nach kompositionell und farbig herbeigeführter Harmonie entsprechen.
Auch für diese scheinbar vollkommen anders geartete Bildauffassung lassen sich kunsthistorische Vorbilder ausfindig machen, die kaum weniger einflussreich für das Naturverständnis der Moderne waren als die eben genannten. Als Beispiele wäre zunächst die Sammlung von hundert kunstvoll lithographierten Tafeln zu nennen, die der Jenaer Naturforscher Ernst Haeckel 1898 unter dem Titel „Kunstformen der Natur“ publizierte. Den Betrachtern der symmetrisch angeordneten Lebewesen suggerierte Haeckel die Offenlegung der Ordnungsgesetze der Natur, dem zu dieser Zeit gerade boomenden Kunstgewerbe versprach er erfreuliche und nützliche Anregungen. Dieselbe Intention hatte der an der Berliner Lehranstalt für Kunstgewerbe zuständige Zeichenlehrer Moritz Meurer, als er frühe Pflanzenfotos von Karl Bloßfeldt veröffentlichte. Die Pflanzen und Blütenformen wurden dabei nicht nur als Ursprung des künstlerischen Ornaments angesehen, sondern Natur wurde bewusst unter die Perspektive des künstlerischen Blicks gerückt. Von ihrem eher funktionalen Ursprung als Lehrmittelsammlung haben sich die berühmten Bildpublikationen Karl Bloßfeldts zwar emanzipiert, aber gerade der sachliche, scheinbar unbestechliche Blick der Kamera diente den Interpreten seiner 1928 veröffentlichten „Urformen der Kunst“ als Beweis für die durch seine Bilder offenbarte Einheit zwischen Kunst und Natur. So bemerkt der Kunsthändler Karl Nierendorf in seinem Vorwort für den Band: „So vielgestaltig das Reich der mit uns wachsenden und vergehenden, kristallischen, animalischen und vegetativen Formen auch ist; sie werden bestimmt von einem jenseitigen starren und ewigen Gesetz, das sie ins Dasein rief.“
In ihrem naiven Glauben an eine Sichtbarmachung „starrer“ und „ewiger“ Gesetze, die für die Natur ebenso Gültigkeit besäßen wie für die Kunst, bieten Meurer und Nierendorf – Karl Bloßfeldt hat seine Arbeiten erst später kommentiert – nur schwache Gegenargumente zu den ungleich tiefsinnigeren Überlegungen Klees und Beuys´. Gleichwohl machen sie die Faszination des künstlerischen Blicks auf die Natur sichtbar, durch den sich Natur in Kunst zu verwandeln scheint. Und es scheint diese Art der Faszination zu sein, die Andrea Küster immer wieder zu den scheinbar banalen Motiven aus der Pflanzenwelt hinzieht. Sie ist sich der Gefahr der Arglosigkeit durchaus bewusst, wenn sie trotz aller Fragen nach der „Bedrohung der Natur, der Gentechnik und der Genmanipulation“ immer wieder den „Impuls des Sichtbaren“ (Andrea Küster) aufnimmt. In Anbetracht des ständigen und immer tiefer reichenden Eingriffs des Menschen in die Natur würde aber auch die unreflektierte Affirmation des Schöpfungsgedankens, der sich in einer als prozesshaft bestimmten Kunst manifestiert, leichtgläubig erscheinen. Dies hat Beuys erkannt, als er von einer Fortsetzung der Schöpfung, die in der Verantwortung des Menschen liege, sprach. Die manchmal deskriptiv anmutende Wiedergabe des Sichtbaren unter ständig wechselnden Perspektiven auf der einen und die Offenheit der zeichnerischen Formulierungen auf der anderen Seite markieren das Spannungsfeld, in dem sich das Bild- und Naturverständnis Andrea Küsters entfaltet. Es ist keine Flucht, in der sie sich wie Daphne der Pflanzenwelt anverwandelt, aber es ist ebenso wenig der Versuch einer Versachlichung, die das Lebendige und Vitale der Naturdinge kühl registriert. Andrea Küster findet den Ursprung ihrer Kunst in den einfachsten Gegenständen der Natur und diese wiederum dienen der Verwirklichung ihrer künstlerischen Intentionen. Deshalb nimmt sie die übergroß geschilderten Motive offener Blütenkelche ebenso wie die unterschiedlichen Arrangements der Bildtafeln aus ihren Zyklen zunehmend als Formen räumlichen Gestaltens und damit als neue Repräsentationsformen ihrer Kunst jenseits der Frage nach der Natur war.